Das Gehirn beeinflusst die Psyche, das ist bekannt. Aber auch der Darm spielt eine wichtige, ja eine viel wichtigere Rolle, als lange Zeit angenommen. Das ist neu. Und revolutionär.
Ob sie sich vor Freude in den Armen lagen, bleibt eine Vermutung. Grund genug hätten sie jedenfalls gehabt, die Neurologen und Darmspezialisten, als sie vor einigen Jahren beweisen konnten, dass Darm und Gehirn eng miteinander verbunden sind. Und zwar viel enger, als lange gedacht. Wie genau und warum sich die beiden Organe gegenseitig beeinflussen, ist noch nicht geklärt. Klar aber ist, dass die Forscher mit diesem Resultat einen wichtigen Grundstein für die Zukunft gelegt haben.
Die Erkenntnis über die Darm-Hirn-Verbindung ist eine Revolution. Auch für die psychiatrische Forschung. Denn lange Zeit war der Grundtenor, dass alles vom Gehirn gesteuert wird. Sämtliche unklaren Beschwerden im Körper des Menschen wurden auf einen Konflikt im Kopf zurückgeführt. «Den Darm hat man lange Zeit missverstanden, als fleissigen Diener der Verdauung und lästige Alarmanlage für seelische Konflikte», sagt der Psychiater Gregor Hasler. Neuere Studien hätten nun diese Auffassung widerlegen können. Der Informationsfluss vom Darm zum Hirn, so das Ergebnis der Untersuchung, sei sogar grösser als umgekehrt.
Um die Verbindung zwischen den beiden Organen besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick in den Darm. Sein Steckbrief kann sich durchaus sehen lassen: Als grösstes Organ im menschlichen Körper hat er eine gewaltige Oberfläche von rund 300 bis 500 Quadratmetern vorzuweisen. Damit ist er grösser als ein Basketballfeld. Grund für diese erstaunliche Fläche sind zahllose winzige Falten und Zotten in der Darmwand. Ebenso imposant, jedoch um einiges relevanter sind seine Bewohner.
«Alleine auf einem einzigen Quadratzentimeter leben mehr Bakterien, Viren und Pilze als Menschen auf der Erde», so Hasler. Die Summe all dieser Bewohner ist die Darmflora. Zu ihr zählen auch unliebsame Bewohner, die giftige Substanzen produzieren und so etwa Durchfall und Magenbeschwerden erzeugen. Die Mehrheit der Darmbakterien jedoch sind emsige Arbeiter. Mit ihrem permanenten Einsatz sind sie Teil unseres Immunsystems und schützen unseren Körper vor Krankheiten.
In der Darmflora herrscht das Prinzip der Koexistenz. Gewisse unliebsame Bewohner werden toleriert. Nehmen sie jedoch überhand, beginnen die Probleme, die sich letztlich auf das Immunsystem auswirken können. Das zeigt sich aber auch bereits, wenn unsere guten Bakterien zu streiken beginnen. So etwa nach einer grossen fetthaltigen Mahlzeit, indem sie dafür sorgen, dass wir uns müde und unkonzentriert fühlen.
Die Information der streikenden Bakterien gelangt vom Darm ins Hirn. Die beiden Organe pflegen einen regen Austausch, sie kommunizieren dabei vorwiegend über Nerven, Hormone und Entzündungsstoffe miteinander. Bei den Entzündungsstoffen handelt es sich um so genannte Zytokine. Die Forschung spricht von einer Darm-Hirn-Achse.
Hormone sind ein wichtiger Bestandteil dieser Darm-Hirn-Achse, gerade im Hinblick auf unsere psychische Verfassung. Neuere Studien haben ergeben, dass wir 95 Prozent des Glückshormons Serotonin nicht dem Gehirn, sondern unserem Darm verdanken. Kommt es zu einer Störung dieser Produktion, sind Schlafprobleme, Ängste oder auch eine depressive Verstimmung die Folge.
Je stärker also eine Darmflora gestört ist, desto schwerer kann das psychische Wohlbefinden darunter leiden. Unser Essverhalten könnte demnach eine wichtige Rolle für unsere Psyche spielen. Hasler zufolge hat eine erste Studie belegt, dass eine mediterrane Diät antidepressiv wirken könnte, gerade bei Menschen, die sich von Fastfood ernähren.
«Der Einfluss auf die Psyche ist gewiss», betont Hasler. Wie gross dieser tatsächlich sei, dafür bedarf es noch weiterer Forschungsergebnisse. Eine der grössten Herausforderungen dreht sich dabei um die Frage, was zuerst war. So etwa am Beispiel einer Depression: Was war der Auslöser? Die gestörte Darmflora oder die Depression selbst, die sich negativ auf den Darm auswirkt?
Heiss diskutiert wird in der psychiatrischen Forschung auch, welche Bedeutung die Darm-Hirn-Achse für weitere Therapien haben könnte. Neben der Behandlung von Depressionen sieht die Wissenschaft ein grosses Potenzial bei Erkrankungen wie Autismus, Aufmerksamkeitsdefizit-Störung (ADHS) oder Demenz. In den letzten Jahren habe die Forschung auf diesem Gebiet überraschend grosse Fortschritte gemacht, so Hasler. Gut möglich also, dass der nächste Durchbruch schon bald vermeldet wird.
«Schon seit meiner Pubertät beschäftigt mich der Darm,» erzählt Gregor Hasler. Von Erinnerungen wie diesen berichtet er auch in seinem Buch «Die Darm-Hirn-Connection», das 2019 erschien. Darmbeschwerden habe er am eigenen Leib erfahren. All die melancholischen Verstimmungen und romantischen Schwärmereien, die er verspürte, gingen jeweils einher mit Krämpfen, Blähungen und anderen Magenbeschwerden.
Haslers Verstimmungen sind im Laufe der Zeit verschwunden. Nicht zuletzt, weil aus seinem Leiden eine Berufung geworden ist. Hasler ist heute Professor für Psychiatrie an der Universität Freiburg. Und er ist guter Dinge, wenn es um sein Forschungsgebiet geht: «Wir können uns auf eine spannende Zeit einstellen, in der sich Darm und Hirn näher sein werden als je zuvor.»
Erfahren Sie mehr über den Zusammenhang von Darm und Gehirn im Buch von Psychiater Gregor Hasler.
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